2019 Laudation „KonstanzKreuzlingen (un)beachtet“

Sicherlich haben Sie so etwas schon einmal erlebt. Freunde oder Verwandte haben ein neues Haus gebaut und Sie bewundern die neue Küche. Die makellose Induktionsherdplatte, die edle Natursteinarbeitsfläche, die ausgefeilte Beleuchtung, die farblich abgestimmten Kacheln und so weiter. All das betrachten Sie sorgfältig, fragen vorsichtig nach den Preisen und überlegen, ob und wann das in ihr persönliches Budget passen könnte. Und dann kommen Sie nach Hause in die eigene Küche, und wie nie zuvor fällt Ihnen auf, wie abgenutzt alles ist, wie unmodern und altbacken die Einrichtung aussieht. Und Sie mögen sich fragen, warum ist mir das nicht schon früher aufgefallen, schließlich stehe ich doch jeden Tag mehrfach in der Küche.

Ein neuer, ein unvertrauter Blick auf Dinge, die man kennt. Das, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist es, was uns Lukas Ondreka in den rund 50 Fotografien der Ausstellung „Konstanz.Kreuzlingen (Un)beachtet“ anbietet. Das ihm das gelingt, liegt unter anderem an einem Mechanismus, der jeder Fotografie innewohnt. Es ist fundamental unterschiedlich, ob wir eine Szenerie direkt betrachten oder eine Fotografie derselben. Eine Fotografie ist immer ein Ausschnitt aus einem größeren Ganzen, denn das im Prinzip unbegrenzte Sichtfeld des Menschen wird hier auf einen in der Regel rechteckigen Ausschnitt verengt. Dadurch geraten Dinge an den Rand, obwohl sie einen gleichwertigen Teil der Szenerie darstellen. Anderes rückt in den Mittelpunkt. Die Wirkung des Bildausschnitts ist nicht zu unterschätzen. Sie könnten sich das vor Augen führen, indem Sie mit einem Foto von Ondreka die fotografierte Stelle vor Ort aufsuchen und vergleichen.

Für den französischen Fotokritiker Phillippe Dubois heißt Fotografieren „[…] immer zunächst Schneiden, Ausschneiden, das Sichtbare durchtrennen“ (P.Dubois: Der fotografische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv, aus dem Franz. von Dieter Hornig, Schriftenreihe zur Geschichte und Theorie der Fotografie, Herta Wolf (Hrsg), Bd. 1, Amsterdam, Dresden: Verlag der Kunst 1998 S. 174f., zit. n. Candida Höfer Orte Jahre, München, Paris, London 1999) . Sie werden es schon bemerkt haben: Ondreka wählt ungewöhnliche, große, weite Ausschnitte. Doch es ist nicht der Ausschnitt allein, der uns hinschauen lässt. Es sind zwei weitere stilistische Mittel. Da ist zum einen das Schwarzweiß. Damit wählte Ondreka eine Ausdrucksweise, die heute aus der Flut der farbigen Bilder hervorsticht. Obwohl die Farbe in der künstlerischen wie der angewandten Fotografie seit den 1980er-Jahren das beherrschende Stilmittel ist, entscheidet er sich für die abstrahierende und verfremdende Wirkung des Schwarzweiß‘.  Gegner der Farbe sagen dieser Bildsprache zudem weniger Suggestion und eine größere Nähe zur Wahrheit nach und der einflussreiche, 2014 mit 68 Jahren verstorbene Berliner Fotograf Michael Schmidt, verband damit ein ‚Höchstmaß an Neutralität‘ für den Betrachter. (Ohff, Heinz in M. Schmidt Berlin – Stadtlandschaft und Menschen, Stapp Verlag Berlin 1978, S. 10) Das zweite Stilmittel ist, dass die Bilder in der Nacht gemacht wurden. Wie Ondreka mir erzählte, ist dies vor allem der Tatsache geschuldet, dass er nur in der Nacht Zeit für dieses Projekt hatte. Das mag ein schlechtes Licht auf die Arbeitssituation des jungen Fotografen werfen, aber ein gutes Licht auf die Bilder. Nachtaufnahmen strahlen einen ganz besonderen Reiz aus. Mit ihrem Kontrast zwischen Tag und Nacht, dem extremen Spiel aus Hell und Dunkel, der menschenleeren Stille, irritieren sie uns, die wir gewohnt sind, Dinge bei Tag wahrzunehmen.

Sehr verehrte Damen und Herren. Mit Ausschnitt, Schwarzweiß und dem Licht Nacht hat Ondreka aus einem unbeachteten Irgendwo ein sehenswertes, fesselndes Bild geschaffen. Brücken, Unterführungen, Autostellplätze, Aufzüge, Radwege, Hinterhöfe, Waschanlagen, Tankstellen, Bahnhöfe, Industrieanlagen, Parks, Straßen und Gebäude – eine lange Aufzählung gebe ich zu, aber all das hat Ondreka in ihrer jeweils baulichen Gestalt festgehalten und dabei Formen, Linien und Strukturen betont und auch auf die Funktionalität verwiesen. Doch was ist es, was uns Lukas Ondreka damit zeigen will? Wer ist dieser Lukas Ondreka eigentlich?

Aufgewachsen in Offenbach, ist er zum Studium der Politischen Theorie nach Frankfurt gezogen. Als Politologe hat er in München noch das Handwerk des Journalisten erlernt. In der Fotografie ist er Autodidakt. Erst seit zweieinhalb Jahren lebt der Dreißigjährige in unserem schönen Konstanz. Südkurierlesern dürfte er bekannt sein. Auch wer die Autorenangaben in den Artikeln ignoriert, wird sich sicherlich an die Bildreportagen über den Baufortschritt der B33 oder am Schwaketenbad erinnern. Die Aufnahmen machte Ondreka mit Drohnen und das verweist auf seine Affinität zu Technik und neuen Medien. In seiner Zeit bei der Süddeutschen Zeitung von 2015-2017 arbeitete er in der Entwicklungsredaktion, die sich mit neuen Leser-Formaten beschäftigt.

Unter anderem erstellte er dort eine Reportage, die für die Präsentation als Virtual Reality geeignet ist. Sie kennen das vermutlich, es geht um die großen brillenähnlichen Gestelle, die das ganze Gesichtsfeld ausfüllen, die den Betrachter tief in das Geschehen eintauchen lassen und dabei die Grenze zwischen künstlicher und realer Welt verwischen. Ondrekas Reportage thematisierte die Seenotrettung. Er begleitete ein Rettungsboot im Mittelmeer und befestigte eine 360°-Kamera am Gummiboot, das zu den in Seenot Geratenen hinausfuhr.

Emotionale Bilder, deren moralischen Impetus sich der Betrachter nicht erwehren kann, überschreiten schnell die Grenze von Berichterstattung zu Manipulation. Doch Ondreka weiß um die Zweischneidigkeit dieser immersiven Storytelling-Formate. Mit den expressiven Bildern der Seenotrettung wollte Ondreka dem Betrachter ein Geschehen nahezubringen, dass ihm oft genug nur als abstrakte Zahl von Ertrunkenen oder als Debatte um politische Strategien begegnet war.

Zurück zur Ausstellung:

Bei den hiesigen Fotografien arbeitet Ondreka genau gegenteilig. Hier sucht er nicht die Nähe und Verschmelzung zum Sujet, sondern Distanz und Klarheit. Er reißt uns aus der Immersion heraus und ermöglicht uns die Betrachtung von außen. Die Orte, die er abbildet, sind uns vertraut, so vertraut, dass wir sie nicht mehr sehen. Wir gehen täglich an ihnen vorüber um von A nach B zu gelangen. Man kann sie als Durchgangsorte charakterisieren, doch sie sind zweifelsohne genauso Teil der Stadtlandschaft wie die übergeschaute und überfotografierte Imperia, das Münster, der Lenkbrunnen, das Konzil oder der Bodensee. Um auf die vermeintlichen Nicht-Orte aufmerksam zu machen, präsentiert Ondreka sie aus einer neuen, frischen und ästhetisierten Sicht, wodurch wir sie nun befragen können. Was ist das überhaupt für ein Ort? Wie sieht er eigentlich genau aus? Wodurch zeichnet er sich aus? Spricht er mich an? Ist er hässlich oder schön? Soll man ihn so belassen oder ändern?

Lassen Sie mich auf ein paar Bilder eingehen, die Sie in auf den oberen Etagen finden.

Auch wer viele Male am Konstanzer Bahnhof gewesen ist, wird den Bahnübergang vielleicht nie so gesehen haben, wie von Ondreka fotografiert. Das liegt nicht nur an den Konturen des modernen käfigartigen Baus, sondern wie er den Fußgängerübergang mit seinen scheinbar chaotisch angeordneten Neonröhren mit dem nostalgisch anmutenden Bahnhofsturm auf der anderen Seite der Gleise kontrastiert. Ondrekas Lichtquelle ist das künstliche Licht, das er raffiniert in seinen Kompositionen einbindet. In der spiralförmig angelegten Fahrradauffahrt zur Schänzlebrücke erhellt er damit auch das triste Grau des davorliegenden nassen Asphalts und den gläsernen Aufzug am Bahnhof Fürstenberg, der barrierefrei Fußgänger auf die Oberlohnstraße befördert, verwandelt er in eine Oase des Lichts. Geschickt hat er dabei die Bildelemente aus Struktur und Form zu Skulpturen verdichtet, die den Objekten auch als Ingenieurskunst Bedeutung verleiht.

Vielen Orten verleiht Ondreka auch die Anmut von Bühnen. So die streng gegliederten Gebäude der Kreuzlinger Maturitätsschule, deren angeschnittene Fassaden einer düster-theatralen Aufführung beste Kulisse bieten. Oder der hässliche Hinterhof mit vergitterten Fenstern, einem fluchtbereiten Fahrrad und einer offenstehenden Tür zu einem hellen, uneinsehbaren Raum, ist für dramatische Kriminalgeschichten voll tauglich.

Der Schänzlebrücke, auch neue Rheinbrücke genannt und Teil der B 33, widmet sich Ondreka in mehreren Aufnahmen. Durch die verschiedenen untersichtigen Perspektiven wirkt der Koloss aus Beton und Stahl wie ein Gewirr aus aufgeständerten Straßen, die man aus Großstädten kennt. In Konstanz dient sie der Entlastung des innerstädtischen Verkehrs. Lukas Ondreka kann dem unwirtlichen Ort viel abgewinnen, ein Platz, so sagt er, der zu jeder Stadt gehöre und der das darunterliegende nicht nur entwerte, sondern auch neue Plattformen aufbiete, sei es für einen Skatepark, eine Dirt-Bike-Anlage oder bassgetriebene Musikkonzerte. Betonlastig und wuchtig sind auch die aus zwei Ansichten wiedergegebenen Wege im Kreuzlinger Migros Areal. Festgehalten hat er dort auch die immensen, leeren Parkflächen mit tadellos aufgereihten Einkaufswägen, die tagsüber von unzähligen Käufern frequentiert werden, doch nachts trotz auffälliger Beleuchtung beklemmend und trostlos sind. Bei den postmodernen Bogenläufen auf dem Augustinerplatz greift er nicht nur die Symmetrie auf, sondern verschränkt sie durch die Zusammenschau der stark mit Graffiti und Reklame bestückten Säulen und den dahinterliegenden überfrachteten Schaufensterauslagen zu einer merkwürdigen Melange, die dem Betrachterblick wenig Halt bietet.

Dass Ondreka die urbanen Strukturen ohne Menschen zeigt, ermöglicht uns, sie in ihrer bloßen Beschaffenheit zu schauen. Menschen würden ablenken, andererseits wird verständlich, dass Orte des Transits schwerlich die Menschen aus ihren Gedanken zu reißen vermögen. Denken wir an die hunderte von Personen, die täglich durch den properen Kreuzlinger Bahnhof gehen. Fast jeder wird dabei im Kopf woanders sein, vielleicht schon auf der Arbeitsstelle, zu dem ihn oder sie die Bahn bringen wird. Wer kommt schon auf die Idee, die klar geschichteten Betonwände daraufhin zu befragen, welche Stimmung sie verbreiten?Oder nehmen wir die Besucher des Lagoparkhauses. Sie werden vermutlich schon am Schlagbaum daran denken, hoffentlich einen der obersten Parkplätze zu ergattern, um auf kürzestem Fußweg ins Kino zu gelangen. Oder die vielen Radfahrer auf der Fahrradschnecke, deren Gedanken vielleicht nur darum kreisen, die Steigung möglichst rasch zu bewältigen und für die Rhythmik der Brückenkonstruktion kein Auge übrighaben.

Meine sehr verehrten Damen und Herren. Bei Ondreka werden Durchgangsräume zu Anschauungsobjekten. Er unterbricht den Strom der Bilder, der an den Augen des Vorübergehenden, der Vorbeieilenden entlangfließt und hält ihn fest. Es ist diese doppelte Abgrenzung durch Wirklichkeitsausschnitt und Bildausschnitt, die zum Hingucken reizt. Vermutlich kann besonders ein Neu-Konstanzer eine so unverbrauchte visuelle Sicht auf Orte gewinnen, die uns schon länger hier Lebenden aus dem Blickfeld gerutscht sind.

Ich will nicht enden, ohne etwas zur Technik zu sagen.

Ondreka arbeitete zuerst mit einer Linhof-Kamera mit einem Negativformat von 6 x 17 Zentimetern. Mit einer analogen Panorama-Kamera zu arbeiten, war ein Traum aus Jugendjahren als er den großen Bruder bewunderte, der im Schwarzweißlabor Bilder entwickelte. Die Firma Lichtblick, die Ondrekas Arbeit unterstützt, lieh ihm das große Gerät, doch im Laufe der Recherche wurde die Kamera verkauft, so dass er die Arbeit mit einer mittelformatigen Digitalkamera der Marke Fuji fortsetzte. Die ersten Fotografien erschienen im Südkurier, Ondreka bestückte die Aufnahmen auch mit lakonischen Kommentaren zu den Orten. Über diese Veröffentlichung wurde das Architekturforum KonstanzKreuzlingen auf sein Schaffen aufmerksam. Anfänglich hatte Ondreka nur Konstanz im Blick, erweiterte für diese Ausstellung die Serie jedoch um Stadtlandschaften aus Kreuzlingen. Überhaupt sind alle Fotografien erst in diesem Jahr, viele erst in den letzten Wochen entstanden. Der außergewöhnlichen Helligkeitsunterschiede nächtlicher Szenerien stellen spezielle Anforderungen an den Fotografen, sei es die Verteilung der Tonwerte, die Schärfe oder die Belichtung, die bis zu mehreren Minuten dauern kann. Auch ein Stativ ist unabdingbar.

Meine sehr verehrten Damen und Herren. Ondreka arbeitet konzeptuell, d.h. er erstellt vorab ein Konzept über das, was er, wo, wann und wie fotografieren möchte. Sein Stil ist dokumentarisch. In seinem noch jungen Fotografenleben zeigt er eine Vorliebe für die Erkundung sozialer Räume. Der Street Photographer Josef Koudelka, dessen sozialdokumentarische Aufnahmen vom Prager

Frühling einigen von Ihnen vielleicht bekannt sein mögen, ist sein Vorbild. Wie Koudelka erzählt Ondreka Geschichten. In der Auseinandersetzung mit Stadtlandschaften zeigt er zugleich viel Gespür für eine sachliche, präzise und strukturbetonte Darstellungsweise, und damit für eine Bildsprache, die der Architekturfotografie zu eigen ist. Mit den Fotografien über die unbeachteten Ansichten von KonstanzKreuzlingen ist ihm auf Anhieb eine wunderbare Arbeit an der Form gelungen.

Ondreka interessiert sich über die Fotografie hinaus für die allgemeinen Lebensbedingungen der Menschen. Er betreibt einen Podcast, also ein nicht zeitgebundenes Internet-Hörprogramm mit dem Namen „Dissens“. Dort spricht er wöchentlich mit unterschiedlichen Gästen über Politik, Kapitalismus und Gesellschaft. Und so verwundert es nicht, dass er auch mit diesen Bildern eine Absicht verfolgt, die über kunstvolle Bildsetzungen hinausgeht. Die Orte, die er aus dem Strom des Unbeachteten in unsere Wahrnehmung überführt, sind öffentliche Orte, deren Gestaltung Gegenstand demokratischer Prozesse sein muss. Auch wenn wir die Orte nicht beachten, beeinflussen uns die aus Stein, Beton, Stahl und Glas bestehenden Zeugnisse meist jüngerer Stadtgestaltung doch – meist unbewusst. Um alle diese Schauplätze legt Ondreka seine ästhetische Klammer, die sie offen für einen Diskurs macht. Er urteilt nicht, er sensibilisiert. Ob Pro oder Kontra, ob Schön oder Hässlich, obliegt dem Auge des Betrachters, also Ihnen meine Damen und Herren. Vielen Dank. 

Dorothea Cremer-Schacht